Nena ist die beste Kollegin von allen. Wann immer es ganz schnell ganz dringend was zu erledigen gibt: Nena macht’s. Nena ist runter mit den Nerven.
Sie sagt: „Die Kolleginnen und Kollegen laden den ganzen Kleinmist bei mir ab! Ich komme nicht zu meiner eigentlichen Arbeit! Ich muss dringend mit der Chefin reden!“ Ich frage sie:
„Was würdest du denn der Chefin gerne sagen?“
„Dass die das abstellen soll! Dass sie mir auch ein großes Projekt geben soll, damit alle sehen, dass ich ausgelastet bin!“
„Was sagst du denn den Kolleginnen und Kollegen, wenn sie mal wieder etwas bei dir abladen wollen?“
„Eigentlich nichts.“
Niemand muss sich dafür schämen. Das Neinsagen hat niemand von uns in Elternhaus oder Schule qualifiziert gelernt – wusste schon Seneca: Non vitae, sed scholae discimus. Wir lernen für die Schule, nicht fürs Leben. In 2000 Jahren hat sich daran nicht viel geändert. Also üben wir das. Nena und ich üben Neinsagen. Nach zehn Minuten passen Wortwahl, Ausdruck und Abrufbarkeit in wechselnden Situationen (Rollenspiel). Dann behandeln wir die Widerstände.
Ich werf mich immer weg, wenn Leute aus einem Workshop oder einem Coaching kommen und nicht tun, was sie eigentlich tun wollten. Was sie mit Trainer oder Coach besprochen haben. Was sie trainiert haben. Und sich dann Vorwürfe machen. Als ob es an ihnen läge. Dabei hat der verantwortliche Trainer oder Coach lediglich „vergessen“, die inneren, meist unbewussten und immer unreflektierten Widerstände zu behandeln (viele können und wollen das auch nicht). Also frage ich Nena:
„Stell dir die nächste Situation vor. In allen Details. Was sagt der Kollege? Wie ist er gekleidet? Was genau will er von dir? Was trägst du? Wie fühlst du dich? Sitzt du oder stehst du? Und dann? Sagst du jetzt nein?“
Nein, sie sagt nicht nein. Sie traut sich nicht. Weil: Sie ist Leertischlerin. Es gibt Leer- und Volltischler. Sie arbeitet dasselbe Pensum ab wie viele ihrer KollegInnen. Aber: Ihr Schreibtisch ist immer leer. Nur Telefon, Bildschirm, Tastatur, Lampe und Kaffeetasse stehen drauf:
„Wenn ich dann einem Kollegen sage, dass ich landunter bin, sagt der doch bestimmt: Kann gar nicht sein, du hast ja nix aufm Tisch, du willst mich bloß abwimmeln!“
Sie fragt: „Soll ich also meinen Schreibtisch mit Aktenordnern und Papieren vollstellen?“
Ich frage: „Willst du das denn?“
Natürlich nicht. Leertischlern dreht sich der Magen dabei um. Sie finden dann auch nichts mehr. So können sie nicht arbeiten – ich zum Beispiel auch nicht. Also integrieren wir dieses Hindernis in Nenas Lösung. Sie wartet damit auch nicht bis zur nächsten akuten Situation. Sie sagt das gleich beim nächsten Mittagessen mit den KollegInnen:
„Vielleicht ist euch schon aufgefallen, dass mein Schreibtisch immer leer ist. Das entspricht meinem Grundbedürfnis nach Ordnung. Das heißt aber nicht, dass ich nichts arbeite, sondern das ist einfach meine Art, für Struktur zu sorgen. Und wenn ihr dann kommt und wollt, dass ich was für euch erledige, und ich sage, dass ich grade absaufe – dann bitte glaubt mir das.“
Und alle KollegInnen sagen: „Ah, klar, kapier ich jetzt auch. Natürlich glauben wir dir das, wir sind ja keine Unmenschen.“ Das können sie sagen, weil sie beim Mittagessen sind und nicht in der akuten Stresssituation, wo sie dringend was brauchen. Deshalb spricht man darüber nicht in der akuten Situation, sondern in der Comfort Zone. Ein Kollege und zwei Kolleginnen sagen auch: „Geht mir übrigens auch so.“ Die Volltischler sagen: „Bei uns ist es genau umgekehrt: Je voller der Tisch, desto sicherer fühlen wir uns. Aber gut, dass du das jetzt angesprochen hast. Wenn es hoch hergeht, hätte das sonst tatsächlich zu Missverständnissen führen können.“ Klingt total trivial.
Warum macht das dann kaum jemand? Weil wir ständig auf dem falschen Dampfer unterwegs sind. Selbst manche Ratgeber. Wir fragen uns ständig: Wenn es wieder kracht, Konflikt, Stress, Aufruhr gibt – wie verhalte ich mich da wirksamer, schlagfertiger, selbstbewusster? Man könnte auch fragen: Wenn die Scheune brennt, wie lösche ich dann schneller?
Die bessere Frage wäre allerdings: Wie sorge ich dafür, dass ich nie löschen muss? Denn wenn eine Problemsituation akut wird, kommt immer der Stress dazu – und Stress ist ein Lösungskiller. Meist ist er ein größeres Problem als das eigentliche Problem. Unter Stress sind wir alle Idioten.
Rede nicht auf Biegen und Brechen im Stress mit andern! Red mit ihnen, wenn sie und du keinen Stress habt. Rede dann über die stressauslösende Situation. Dann lässt sich das fast immer klären – im Stress fast nie. Wenn das so einfach ist, warum machen wir das dann nicht alle längst?
Weil Stresssituationen so unangenehm sind, dass wir sie vergessen, verdrängen, sobald sie überstanden sind. Wir denken: „Schwamm drüber und drei Kreuze!“ Anstatt zu denken: „Ich warte mal ab, bis sich das wieder beruhigt hat – und dann bring ich das vorwurfsfrei und beziehungsverträglich zur Sprache.“ Das ist dann auch schon der ganze Trick: Sich das zu merken, was gerade stressig war und es dann anzusprechen, wenn sich alle wieder beruhigt haben. Aber die hören dir nie zu?
Selbst dann ist es besser, drüber zu reden. Etwas zu tun, ist immer besser als nichts zu tun. Denn erlebte und erlernte Hilflosigkeit ist das schlimmste aller Probleme.