Change

Es gibt keine Work-Life-Balance


Wenn es sie gäbe, würde das nämlich bedeuten: Es gibt eine Trennung zwischen Arbeit und Leben. Ich bin mir bewusst, dass viele Menschen diese Trennung wünschen und/oder ziehen, aber für mich ist das ein fließender Übergang: Meine Arbeit ist kein Fremdkörper, der abgetrennt werden müsste; sie gehört ebenfalls zu mir. Ich will mich nicht aufspalten in dort Arbeit und hier Leben. Was würde passieren, wenn ich es trotzdem tun würde? Wenn ich die Work-Life-Aufspaltung mitmachen würde?

Ich würde im einen Bereich eine Rolle spielen und im andern authentisch sein. Ich müsste in einem der beiden Bereiche einige Persönlichkeitsteile von mir wegsperren – sonst müsste ich die Trennung ja nicht vollziehen. Also entweder bin ich im Privaten echt und bei der Arbeit spiele ich die Rolle der Macher- oder Vordenkerin, der Strategin, Künstlerin oder Handwerkerin. Oder umgekehrt. Viele Menschen machen es umgekehrt.

Im Job können sie sich austoben, alle ihre Talente zum Einsatz bringen, ihre komplette Persönlichkeit einbringen. Doch zuhause beschränken sie sich auf die Rolle der Mutter oder des Vaters. Das sind schöne und verdienstvolle Rollen, aber viele sagen: „Das bin nicht ich.“ Nicht ganz und gar. Nicht wirklich authentisch. Oder wie Ödön von Horváth sagte: „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu.“

Wenn ich dagegen nicht zwischen Arbeit und Leben trenne, bin ich überall und jederzeit: echt, zentriert, ich selber, ganz da, authentisch, ganz und gar, unzerteilt. Ich bin nicht länger aufgeteilt, aufgespalten, schizoid, dissoziiert. Hört sich gut an. Was nicht heißen soll, dass Abspaltung immer und überall schlecht sein muss. Wenn ich mich selber aufteile, kann ich Teile, die ich dort nicht leben kann oder will, dann wenigstens hier ausleben.

Wenn ich zum Beispiel mit jemandem zusammen bin, der bestimmte Seiten an mir nicht wirklich toll findet, muss ich mich nicht unbedingt von ihm oder ihr trennen, wenn die Beziehung ansonsten okay ist. Dann lebe ich die zurückgestellten Seiten meiner Persönlichkeit eben bei der Arbeit aus. Wenn ich eine solche Arbeit mit freier Entfaltung habe, was dann nachdrücklich zu empfehlen wäre. Wenn ich in einer Beziehung bin, in welcher der oder die Andere mehr nach vorne geht, ich selber das auch gerne würde, aber die Beziehung nicht durch einen unnötigen Konkurrenzkampf gefährden möchte, dann gehe ich eben im Beruf mehr nach vorn. Wenn mir das lieber ist als eine Trennung, ist Abspaltung ein Lösungs- und Beziehungsmodell, das viele Menschen zufrieden oder zumindest tolerant praktizieren. Ob ich echt und ganz bleibe oder Teile von mir in den Keller schicke, sollte deshalb auch nicht die Frage sein.

Die Frage ist vielmehr: Rutsche ich unbewusst in Abspaltungsmuster hinein? Wenn ich mich bewusst zurücknehme, bleibe ich ja in gewissem Sinne authentisch. Wenn ich dagegen in jedem verdammten Meeting unbewusst, spontan, instinktiv und unreflektiert zurückrudere und den Mund halte, sobald ein bestimmter Kollege die Klappe aufreißt und mich dabei und danach fürchterlich aufrege, dann rege ich mich im Grunde nicht über meinen Kollegen auf, auf den ich meinen Ärger unbewusst projiziere, sondern über meine unbewusste Abspaltung. Das tut nicht gut. Besser ist es dann, die Abspaltung bewusst zu leben: „Ach, lass ihn doch reden. Hat ja sonst keine Freude am Leben. Was es zu regeln gibt, regle ich dann eben in der Kaffeepause unter vier Augen mit den KollegInnen.“

Bewusst mit der Musterwahl umgehen heißt auch: Bloß kein schlechtes Gewissen haben, wenn man auch und gerade unter dem Peer Pressure der lieben Umwelt, für die Work-Life-Balance im Moment das neue Evangelium ist, seine Arbeit liebt und eben nicht mit dem „Leben“ in Balance halten möchte, weil Arbeit = Leben ist. Anders herum gilt das auch: Wer einen Job macht, der einem viel zu sehr zusetzt, für den ist Abspaltung existenzerhaltend. Feuerwehrleute zum Beispiel, Polizei und Ärzte. Es ist Zeichen guter Mentalhygiene, nicht nur in diesen Berufen manchmal die Arbeit bei der Arbeit zu lassen und nicht (immer) mit nach Hause zu nehmen. Ich bin meinem Onkel noch heute dankbar, dass er keine Leichen mit an den Kaffeetisch brachte. Er war bei der Mordkommission. Ob er diese Abtrennung bewusst oder unbewusst vollzog, spielte für mich damals keine Rolle – aber für ihn eine entscheidende.

Diese Trennung zwischen Beruf und Leben funktioniert nicht mehr bei wem? Ja. Klar. Bei Workaholic, Overachiever und Perfektionistin. Menschen in Pflegeberufen würden gerne strategisch schizophren sein, können es aber oft nicht (mehr) und schleppen „die Arbeit“ überall mit sich herum: in die Familie, in die Beziehung, ins Privatleben, in die Alpträume schlafloser Nächte. Gesünder wäre, auch mal abschalten zu können. Das bedeutet ja nicht, dass man in abgeschaltetem Zustand zum gefühlskalten Eiszapfen wird. Es bedeutet einfach, dass man gelegentlich auch mal „normal sein“ kann. „Ich kann auch anders!“ ist ein gutes Motto. Manche können es nicht mehr. Die können nur noch eine Rille.

Viele Topmanager zum Beispiel, die ihr vermeintlich tolles Führungsverhalten auch mit nach Hause nehmen – wo es keiner besonders toll findet, weil es für die Familie viel zu direktiv oder zu unpersönlich ist. Anders herum funktioniert es ebenfalls nicht: Wenn jemand Vater oder Mutter ist und das auch bei der Arbeit raushängt und junge KollegInnen, die lediglich etwas Orientierung benötigen, derartig unter die Fittiche nimmt, dass diese unter der fürsorglichen Belagerung (Heinrich Böll) mental einknicken und jede Eigenständigkeit und Lebensfreude verlieren. Die brauchen einen Mentor, keinen Vater. Das Bemuttern ist zwar immer gut gemeint, wird aber meist als übergriffig empfunden.

Der gemeinsame Nenner all dieser Rollenfehlbesetzungen ist das unbewusste Handeln. Man/frau überträgt einfach die gewohnten Muster, ohne groß nachzudenken. So kann man das machen. Klüger allerdings ist, sich seine Muster bewusst zu machen und dann situativ zu fragen: Passt das hier und jetzt? Nein? Was passt besser? Das ist die Kunst. Das kann man üben. Wer klug ist, übt das.

Schön, wenn man in jeder Lebenslage den passenden Persönlichkeitsanteil aktivieren kann. Manche kriegen das hin. Das gibt ein tolles Gefühl. Das Gefühl eines gelingenden Lebens. Und das ist so viel mehr als Work-Life-Balance.