Change

Darüber reden wir nicht


Manchmal verrutscht mir der Cursor im Netz bei irgendeinem Magazin, einer Plattform oder Institution. Er rutscht auf den Leserkommentarteil – und mir stehen die Haare zu Berge. Wie das abgeht! Wenn Menschen so auf offener Straße miteinander reden würden, hätten wir Bürgerkrieg. Seltsam nur: Auf offener Straße reden sie so gut wie gar nicht mehr über bestimmte Themen.

Am Sonntag vor zwei Wochen war Wahl und worüber reden die Leute am Montag? Zehn Sekunden Wahl, zehn Minuten Bundesliga, Formel 1, Wetter, Wochenenderlebnisse. Kein Wunder toben sich die Leute im Netz aus! Im wirklichen Leben traut sich das keiner mehr, weil keiner mehr weiß: Darf man das? Ohne dass man angetrollt wird? Man darf nicht.

Neulich gestand mir ein Vorstandsmitglied eines deutschen Großunternehmens: „Ich darf nicht mal mehr in der eigenen Verwandtschaft, geschweige denn im eigenen Unternehmen sagen, dass auch ich nicht auf jeder Bergkuppe unserer Heimat Windräder sehen möchte. Denn wenn ich das sage, wirft man mir sofort vor, ich sei AfD und wenn ich AfD bin, bin ich Nazi.“ Also hält er den Mund. Weil er eine Meinung hat und deshalb nicht gleich in ein politisches Lager gesteckt werden möchte. Eine Meinung zu haben ist in unserer Demokratie scheint’s nicht gut. Wer Meinung hat, wird angreifbar. Jene, die angreifen, haben seltsamerweise oft keine Meinung. Deshalb greifen sie an. Sie haben keine Meinung, sondern eine Haltung: „Was es auch ist, ich bin dagegen! Was du auch sagst, ich brat dir eine über.“

Wir reden nicht mehr miteinander. Wir kommunizieren fast nur noch virtuell, wo wir dann aber sowas vom Leder ziehen. Vor allem, wenn es anonym ist. Das ist dann die letzte Perversion der Kommunikation: ohne jede Verantwortung. Man darf alles sagen und ist für nichts verantwortlich. Früher war man an sein Wort gebunden. Das zentrale Charakteristikum des virtuellen Wortes ist, dass es keinerlei Bindung mehr erfordert, zulässt oder toleriert. Alles ist anonym, unverbindlich und ohne jede Konsequenz. Kein Wunder, dass wir das Sprechen von Person zu Person langsam, ach was, schnell verlernen.

Das Problem ist: Sprache ist Werkzeug des Denkens. Wer nicht mehr vernünftig von Person zu Person sprechen kann, verlernt auch das Denken – oder ist es anders herum? Weil wir nicht mehr denken können, können wir auch nicht mehr sprechen? Das vermutete schon Susan Bennett, die Originalstimme von Siri: „Unsere Maschinen werden immer intelligenter. Passiert mit uns das Gegenteil?”